Berlin, 17. August 2022. Bei der Versorgung von etwa 4,1 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland spielen Angehörige meist eine wichtige Rolle. Sie sind gesundheitlich besonders belastet, denn Pflegesituationen können lange andauern, körperlich fordernd und emotional aufreibend sein. Eine besondere Situation kann entstehen, wenn beispielsweise pflegebedürftige Eltern und deren erwachsene Kinder voneinander entfernt wohnen – und letztere dann Verantwortung für die Pflege auf Distanz übernehmen. Dies kann mit speziellen Herausforderungen einhergehen, wie eine heute veröffentlichte bundesweite Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) bei 1.007 auf räumliche Distanz Pflegenden ergab.
PD Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des ZQP, erklärt: „Unsere Studie zeigt, dass auf räumliche Distanz Pflegende insbesondere in Fragen administrativer Unterstützung eingebunden sind. Sie kümmern sich etwa um Bankangelegenheiten, Korrespondenz mit der Krankenkasse oder die Koordinierung des ambulanten Dienstes. Viele von ihnen sind aber auch direkt vor Ort im Einsatz und begleiten den Arztbesuch, besorgen Medikamente, unterstützen im Haushalt oder helfen bei der Körperpflege. Dafür nehmen nicht wenige von ihnen regelmäßige Anfahrten von über einer Stunde in Kauf.“
Insgesamt äußern im Rahmen der Untersuchung 41 Prozent der Teilnehmenden, dass sie mit ihrer Situation im Pflegekontext eher oder gar nicht zufrieden seien. Stärkere Unzufriedenheit wird unter anderem von denjenigen mit langen Wegezeiten zur pflegebedürftigen Person angegeben. Ab einer solchen von zwei Stunden liegt der Anteil derjenigen, die sich eher oder sehr unzufrieden zeigen, bei 61 Prozent.
Die Befragten berichten von verschiedenen Herausforderungen in Bezug auf ihre allgemeine Situation als Pflegende. So fühlen sich 49 Prozent durch den zeitlichen Aufwand belastet, 38 Prozent der Erwerbstätigen unter ihnen erleben belastende berufliche Einschränkungen und 21 Prozent geben eine Belastung durch den finanziellen Aufwand der Unterstützung an. Von den Befragten, die bereits vor der Corona-Pandemie in der Pflegesituation geholfen haben, sagen 59 Prozent, in der Folge sei dies für sie schwieriger geworden.
In der Studie werden auch Probleme thematisiert, die insbesondere mit Pflege auf räumliche Distanz verbunden sein können. So sagen drei Viertel der Interviewten, es belaste sie, in Notsituationen vor Ort nicht besser helfen zu können. Knapp zwei Drittel empfinden es als beschwerend, wegen der Entfernung zu wenig Einblick in die aktuelle Lage der pflegebedürftigen Person zu haben. Zudem belastet 63 Prozent, aufgrund der Distanz die pflegebedürftige Person insgesamt nicht besser unterstützen zu können. Suhr ergänzt: „Viele auf Distanz Pflegende haben zudem den Eindruck, dass ihr Engagement unterschätzt wird – zum Beispiel von Arbeitgebern, Ärzten, Pflegediensten aber auch in der Familie.“ Dies spiegelt sich ebenfalls in der Befragung: 41 Prozent der Teilnehmenden geben dort an, dass der Umfang ihrer Unterstützung von anderen Personen teilweise nicht richtig wahrgenommen werde, weil sie nicht so oft vor Ort sichtbar seien.
Zudem werden emotional herausfordernde und konfliktfördernde Erfahrungen mit der pflegebedürftigen Person oder mit Dritten gemacht, die ebenfalls mit der spezifischen Distanzsituation in enger Verbindung stehen können. So erklären 38 Prozent, die pflegebedürftige Person gebe ihnen das Gefühl, sie seien zu wenig bei ihr. 27 Prozent empfinden, der oder die Pflegebedürftige gebe ihnen das Gefühl, sie kümmerten sich zu wenig. 17 Prozent geben an, andere vermittelten ihnen das Gefühl, dass sie sich zu wenig in die Pflegesituation einbrächten. 14 Prozent haben den Eindruck, andere unterstellten ihnen, sie würden die Distanz als Ausrede benutzten, um manche Aufgaben im Pflegekontext nicht zu übernehmen.
Darum plädiert Suhr dafür, dass die besondere Situation von auf Distanz Pflegenden in der Öffentlichkeit – insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen – mehr Beachtung findet: „Die informelle Pflege hat verschiedene Facetten. Wer bedürfnisorientiert helfen und bei der Prävention in der Pflege erfolgreich sein will, sollte die unterschiedlichen Herausforderungen pflegender Angehöriger auf dem Schirm haben.“
Zur Methodik:
Das Zentrum für Qualität in der Pflege hat 1.007 Personen ab 40 Jahren zu Art und Umfang der geleisteten Unterstützung, zur Einschätzung der eigenen Pflegesituation und deren Entwicklung in der Corona-Pandemie befragt. Dabei wurden Personen berücksichtigt, die eine pflegebedürftige Person ab 60 Jahren aus ihrem persönlichen Umfeld seit mindestens sechs Monaten in deren Alltag unterstützen. Zu den pflegebedürftigen Personen wurden auch solche gezählt, die noch keinen Pflegegrad nach § 14 SGB XI haben. Dabei war es unerheblich, ob die pflegebedürftige Person in der eigenen Häuslichkeit, dem betreuten Wohnen oder einer Einrichtung der stationären Langzeitpflege lebt.
Als Kriterium für „Distanz“ wurde, wie auch in der Studie „Caregiving in the U.S.“ (NAC & AARP, 2020) und anderen Studien (Franke, 2020), die zeitliche Distanz herangezogen, wobei ab einer einfachen Wegezeit von mindestens 20 Minuten das Kriterium „Pflege auf räumliche Distanz“ als erfüllt gilt.
Als Gegenprobe wurde auch nach der räumlichen Distanz in den folgenden Kategorien gefragt: „25 km bis unter 100 km“, „100 km bis unter 200 km“, „200 km oder mehr“. Hier gaben16 Personen an, „25 km bis unter 100 km“ entfernt zu leben und weniger als 20 Minuten für die einfache Wegstrecke zu benötigen. Diese Personen wurden in der Ergebnisauswertung nicht berücksichtigt.
Die Befragung wurde von 7. bis 23. Februar 2022 durchgeführt. Grundlage für die Befragung ist ein bevölkerungsrepräsentatives, aktiv per Telefon rekrutiertes Online-Panel mit über 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ab 14 Jahren. Bei den für die Befragung verwendeten Antwortskalen handelt es sich überwiegend um vier- und fünfstufige Skalen, ergänzt um die Antwortkategorie „weiß nicht“. Die Skalen wurden vorab nicht validiert, orientieren sich aber an etablierten Skalen (Prüfer et al., 2003). Die Gewichtung der Ergebnisse erfolgte bevölkerungsrepräsentativ nach Geschlecht, Alter und Bildung der befragten Person. Der höchste Gewichtungswert ist 5,10. Die statistische Fehlertoleranz in Bezug auf die Gesamtstichprobe liegt bei +/- 3 Prozentpunkten.