Berlin, 15. November 2021. Mehr als 4 Millionen Bürger sind hierzulande pflegebedürftig; über 90 Prozent von ihnen sind 60 Jahre oder älter. Diese haben – insbesondere bei Demenz – ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Zu entsprechenden Gewaltformen zählen unter anderem psychische Misshandlung, körperliche Übergriffe, Vernachlässigung, finanzielle Ausbeutung, Freiheitsentzug sowie sexualisierte Gewalt. Auch wenn gewaltsames Verhalten in der Pflege nicht absichtlich erfolgen und keine Straftat darstellen muss, sind die möglichen Folgen gravierend. Für die Opfer kann dies schwere Belastungen der Lebensqualität, gesundheitliche Schäden und sogar den Tod bedeuten.
Wie häufig Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen genau vorkommt, ist nicht zu ermitteln. Wahrscheinlich werden selbst viele schwerere Fälle in diesem Dunkelfeld nie bekannt. „Wir wissen allerdings aus der Forschung, dass Gewalt in der Pflege ein gravierendes Problem ist und vielerorts vorkommt – in der häuslichen Pflege wie auch im Pflegeheim. Es handelt sich dabei also nicht um eine seltene Randerscheinung“, erklärt Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP). Dies unterstreichen nicht zuletzt repräsentative Zahlen des ZQP. In einer ZQP-Analyse gaben von den befragten pflegenden Angehörigen 40 % an, in den zurückliegenden 6 Monaten mindestens ein Verhalten gegenüber der pflegebedürftigen Person gezeigt zu haben, das als Gewalt in der Pflege gilt. Für eine andere bundesweite Untersuchung des ZQP wurden Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragte gebeten, die Bedeutsamkeit von Konflikten, Aggressionen und Gewalt in der stationären Langzeitpflege einzuschätzen: 47 % sagten, dass dieses Thema die Einrichtungen vor ganz besondere Herausforderungen stelle. Beunruhigend ist zudem: Das Gewaltphänomen in der Pflege habe sich durch die Corona-Pandemie offenbar verschärft, so Suhr weiter.
Aus Sicht des ZQP ist die Politik daher dringend gefordert. Die Stiftung empfiehlt, in der neuen Legislaturperiode eine breite Gewaltpräventions-Allianz aus Zivilgesellschaft, staatlichen Organisationen und Fachgruppen ins Leben zu rufen. Suhr rät: „Wir brauchen eine bundesweite Initiative zum Gewaltschutz im Kontext Pflegebedürftigkeit. So ein Agendaprozess sollte von den zuständigen Ministerien für die Themen Gesundheit, Senioren und Familie sowie Justiz übergreifend ausgelöst und dazu sollten Experten aus allen relevanten Bereichen versammelt werden.“ Ziel sei eine systematische Bestandsaufnahme, die Lebensbereiche, Handlungsfelder sowie bereits bestehende Ansätze analysiert und konkrete Umsetzungskonzepte für Präventionsmaßnahmen erarbeitet.
Entsprechende Präventionsbemühungen können nicht zuletzt die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern. Denn auch Pflegeprofis erleben nicht selten Gewalt im Beruf. Das kann persönlich belasten, zum Jobausstieg führen, ist aber auch ein Risikofaktor selbst Gewalt auszuüben. Neben eigenen Gewalterfahrungen oder psychischen Störungen ist zum Beispiel auch Überlastung durch Personalmangel ein Gewalt begünstigender Umstand. Genügend gut qualifiziertes Personal in Pflegeeinrichtungen ist demnach einer von verschiedenen Schutzfaktoren. Dieser sei wichtig, aber nicht allein entscheidend, erklärt Suhr: „Basis für gelingende Gewaltprävention ist eine sensitive Präventions- beziehungsweise Sicherheitskultur.“ Um eine solche erfolgreich zu etablieren, ist es notwendig, in vertrauensvoller Zusammenarbeit von Leitung und Mitarbeitern die gesamte Organisation gewaltpräventiv weiterzuentwickeln. Wichtig ist dabei, eine Atmosphäre zu schaffen, die unter anderem diejenigen ermutigt, die aufmerksam sind, interne Probleme ansprechen und eine konstruktive Haltung zeigen. Eine zentrale Aufgabe der Gewaltpräventions-Allianz wäre darum, ein Konzept zu schaffen, wie die rund 15.400 Pflegeheime und 14.700 ambulanten Dienste in Deutschland eine solche Kultur entwickeln, etablieren oder verstetigen können und sie praktisch dabei zu unterstützen.