Berlin, 30. Juni 2020. Etwa 4,7 Millionen pflegende Angehörige tragen einen erheblichen Teil zur Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland bei. Sie waren schon vor der Pandemie physisch und vor allem psychisch teilweise stark belastet. Während in der Corona-Krise vor allem die Lage in Kliniken oder Pflegeheimen wahrgenommen wird, droht die häusliche Pflege übersehen zu werden. Dabei leben dort die meisten pflegebedürftigen Menschen. Darum hat eine gemeinsame Forschungsgruppe des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin in einer Studie untersucht, welchen Einfluss die SARS-CoV-2-Pandemie bisher auf pflegende Angehörige und die häusliche Pflegesituation hat. Dafür wurden bundesweit 1.000 Personen befragt.
Demnach berichten 32 Prozent der Befragten, die Pflegesituation habe sich angesichts der Pandemie verschlechtert. Dass sie diese Situation mehr oder weniger überfordert, sagt ein Viertel. 24 Prozent sind besorgt, die häusliche Pflege nicht mehr zu schaffen. Dabei haben Gefühle der Hilflosigkeit in der Pflegesituation bei 29 Prozent der Angehörigen zugenommen. Eine Steigerung belastender Konflikte mit der pflegebedürftigen Person geben 24 Prozent an. In Bezug auf Verzweiflungsgefühle sagen 22 Prozent, diese seien mehr geworden. Ein Fünftel berichtet, Wut und Ärger in der Pflegesituation seien gewachsen.
„Unsere Studie weist darauf hin, dass sich nicht wenige pflegende Angehörige mit zusätzlichen Sorgen im Gepäck durch die Corona-Zeit kämpfen müssen. Denn sie tragen oft große Verantwortung für die Gesundheit sowie die emotionale und soziale Situation ihrer pflegebedürftigen Nächsten. In der Gemengelage von Infektionsrisiken, Kontaktbeschränkungen und damit verbundenen Unterstützungsverlusten sowie ökonomischer Unsicherheit liegt zusätzliches Überlastungspotenzial“, fasst Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des ZQP, zusammen.
Angehörige von Menschen mit Demenz spüren Auswirkungen der Krise im Pflegekontext noch häufiger. Von ihnen nehmen 41 Prozent die Pflegesituation als zugespitzt wahr. Eine Überforderung damit gibt hier über ein Drittel an; in Sorge, die häusliche Pflege in Folge der Entwicklungen durch das neue Corona-Virus nicht mehr zu schaffen, sind sogar 35 Prozent. Auch andere belastende Gefühle oder Konflikte haben deutlicher zugenommen als bei pflegenden Angehörigen ohne direkten Demenzbezug. So liegt etwa der Wert für Gefühle der Verzweiflung 14 Prozentpunkte oder der Hilflosigkeit 13 Prozentpunkte höher. In Bezug auf Wut und Ärger in der Pflegesituation liegt die Differenz zwischen beiden Gruppen bei 10 Prozentpunkten – bei belastenden Konflikten noch bei 8 Prozentpunkten.
„Insgesamt deutet sich hier ein Muster in unseren Ergebnissen an“, erklärt Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité- Universitätsmedizin Berlin. „Angehörige, die einen Menschen mit Demenz versorgen, sind in der Corona-Situation potenziell besonders belastet. Denn für Menschen mit Demenz ist es unter anderem wichtig, dass ihre gewohnten Routinen erhalten bleiben. Veränderungen und Stress, die nun gerade vermehrt auftreten, wirken sich nachteilig aus. Auch haben die Betroffenen teilweise erheblichen Bewegungsdrang und verstehen die Pandemie-Regeln oft nicht. Mit den daraus resultierenden Problemen sind pflegende Angehörige jetzt zusätzlich konfrontiert.“
Hier wirkt sich vermutlich besonders aus, dass pandemiebedingt weniger Unterstützung in der häuslichen Pflege stattfindet. Laut Befragung sehen sich 40 Prozent der pflegenden Angehörigen insgesamt dadurch Mehrbelastungen ausgesetzt, dass Dienstleistungen und Hilfestrukturen im nahen Wohnumfeld wegfallen. Tagespflegeeinrichtungen konnten in 81 Prozent der Fälle nicht mehr genutzt werden.
Rund zwei Drittel sagen, die Unterstützung durch Dienstleister wie z.B. die Fußpflege (65 Prozent) habe abgenommen oder aufgehört. Vielfach wurde zudem berichtet, dass die Unterstützung durch Nachbarn (43 Prozent), Freunde und Familienmitglieder (32 Prozent) oder den Hausarzt (30 Prozent) abgenommen oder aufgehört habe. Ein Fünftel gibt an, dass ein ambulanter Pflegedienst seltener oder gar nicht mehr genutzt worden ist. Gründe für dieses schrumpfende Netzwerk bestehen unter anderem darin, dass die Unterstützer infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionswelle ihre Hilfe reduzieren oder ganz einstellen – aber auch darin, dass Angebote zum Beispiel aus Infektionsschutzmotiven nicht mehr in Anspruch genommen werden.
Eine Herausforderung kann für pflegende Angehörige zudem darin bestehen, die zahlreichen Empfehlungen zur Infektionsprävention richtig umzusetzen. Auf Händehygiene zu achten, sich über aktuelle Hinweise zur Corona-Situation zu informieren oder den direkten Kontakt mit anderen Menschen außerhalb des eigenen Haushalts weitgehend zu vermeiden, gelingt den weitaus meisten befragten Angehörigen nach ihrer Selbsteinschätzung gut oder sehr gut. Als schwieriger empfinden sie es aber, herzlichen Körperkontakt wie Umarmungen zu vermeiden, der pflegebedürftigen Person die besondere Situation zu erklären oder sie zu beruhigen. Deutlich über ein Drittel der Befragten gibt an, das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zum Beispiel bei der Körperpflege könnten sie eher oder gar nicht gut umsetzen. 44 Prozent haben Probleme damit, sich selbst nicht ins Gesicht zu fassen. Die Möglichkeit für pflegende Angehörige, die nicht im selben Haushalt wohnen, die Kontakte zur pflegebedürftigen Person stärker auf das Telefon oder Videoübertragungen zu verlagern, funktioniert für 21 Prozent der Befragten eher nicht gut, für 23 Prozent gar nicht gut – aber für etwa die Hälfte eher oder sogar sehr gut.
Die Studie gibt zudem einen Einblick in die Situation erwerbstätiger pflegender Angehöriger: 45 Prozent der Befragten aus dieser Gruppe geben an, dass die Pandemie-Situation die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege für sie noch schwieriger gemacht hat. Wird dabei ein Mensch mit Demenz versorgt, sagen dies sogar 56 Prozent. Zum Zeitpunkt der Befragung arbeiteten insgesamt 28 Prozent der erwerbstätigen pflegenden Angehörigen mehr als sonst oder ausschließlich im Home-Office. Über die Hälfte ist mindestens etwas in Sorge, das neue Virus vom Arbeitsplatz nach Hause zu bringen und dort die pflegebedürftige Person anzustecken. Zugleich berichten berufstätige Angehörige teilweise auch von zusätzlicher ökonomischer Unsicherheit: 13 Prozent sagen, dass sie wegen der Corona-Situation stark oder sehr starke Sorge um ihre berufliche Zukunft haben. In der Einkommensgruppe mit einem monatlichen Bruttoeinkommen unter 2.000 Euro sagen dies sogar 20 Prozent. Adelheid Kuhlmey erläutert dazu: „Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu erreichen, ist ein zentrales gesellschaftliches Ziel in Deutschland. Die Erkenntnisse unserer Arbeitsgruppe unterstreichen, dass dieses Ziel auch in Krisenzeiten nicht aus dem Auge verloren werden darf. Wenn erwerbstätige pflegende Angehörige produktiv arbeiten, sich gleichzeitig aber stärker um die pflegebedürftige Person kümmern müssen, weil zum Beispiel die Tagespflege geschlossen hat und sie vielleicht noch zusätzlich ihre Kinder unterrichten sollen, dann übersteigt das irgendwann die Grenzen des Leistbaren und ist gefährlich.“