Interview

Gewaltprävention ist für gute Pflege unverzichtbar

PD Dr. Ralf Suhr ist Vorstandsvorsitzender des ZQP. Das Thema Gewaltprävention im Zusammenhang mit Alter und Pflegebedürftigkeit gehört zu seinen Arbeitsschwerpunkten. Er lehrt unter anderem dazu an der Charité Universitätsmedizin Berlin.

Seit 15 Jahren arbeitet das ZQP an dem Thema Gewalt in der Pflege. Wird man nicht irgendwann müde, darüber zu sprechen?

Nein, gar nicht, eher im Gegenteil. Denn zum Beispiel bei der Arbeit mit Studentinnen und Studenten, aber auch bei Diskussionen mit Gesundheitsprofis spüre ich oft ganz direkt: Der Bedarf für Sensibilisierung und Reflexion zu gewaltsamem Verhalten sowie praktischer Unterstützung bei Präventionsarbeit im Gesundheitswesen ebbt nicht ab. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir es geschafft haben, im ZQP ein Expertenteam aufzubauen, das in weiten Teilen schon über viele Jahre zusammen in dem Themenfeld arbeitet und immer motiviert ist, als Gesprächspartner für Praktikerinnen und Praktiker sowie Akteurinnen und Akteure bundesweit zur Verfügung zu stehen.

Warum ist Gewaltprävention nach wie vor so ein wichtiges Thema?

Ich glaube, drei Botschaften sind aus fachlicher Sicht wichtig und unstrittig: Gewalt in der Pflege kommt häufig vor; sowohl pflegebedürftige als auch pflegende Menschen sind davon betroffen; es handelt sich um ein schwerwiegendes Problem mit erheblichem negativem Einfluss auf die Lebensqualität sowie die Gesundheit Betroffener – und auch auf Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen. Hinzu kommt: Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung der besonders vulnerablen Gruppe älterer pflegebedürftiger Menschen sind ein äußerst tabuisiertes Phänomen, bei dem viele Ereignisse und Schicksale wahrscheinlich nie bekannt werden, also in einem erheblichen Dunkelfeld liegen. Ernsthafte Bemühungen um Gewaltprävention sind also geboten und für gute Pflege unverzichtbar. Wer das so sieht, wird den nächsten Punkt auch unterstützen: Es besteht erheblicher Handlungsbedarf.

Gibt es denn Fortschritte?

Es gibt verschiedene positive Entwicklungen, zweifellos. Eine ist, dass sich die für das Phänomen sensibilisierte Basis sowohl in Fachgruppen als auch im gesundheits- und sozialpolitischen Raum deutlich verbreitert hat. Von Letzterem zeugt etwa, dass unsere Forderung nach einer bundesweiten Allianz für Gewaltprävention durch die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege Berlin aufgegriffen wurde und 2022 in den Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Bundesländer (ASMK) „Gewaltschutz für pflegebedürftige Menschen“ gemündet ist. Als wir vor 15 Jahren das Thema im ZQP zu einem unserer Arbeitsfelder bestimmt haben, hat sich so ein Vorgang nicht angedeutet.
Eine weitere gute Entwicklung ist, dass in den letzten zehn Jahren nach meiner Wahrnehmung immer mehr Pflegefachpersonen und Pflegeorganisationen das Thema Gewalt und Gewaltprävention in der Praxis angehen. Auch die Beratungsanfragen dazu haben in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Und zwar in einer Dimension – und das ist zugleich der Wermutstropfen darin –, die mit unseren Ressourcen kaum zu bewältigen ist.

Und was muss nun weiter geschehen?

Wir sind in Deutschland bisher offenbar noch nicht zu einem bund- und länderübergreifenden Konsens für eine erheblich stärkere Unterstützung von Pflegeeinrichtungen und ambulanten Diensten bei Maßnahmen zur Gewaltprävention gelangt. Zudem bestehen zwischen den Bundesländern zum Teil erhebliche Regelungs- und Anforderungsunterschiede in Bezug auf strukturelle Gewaltschutzmaßnahmen in Pflegeorganisationen. Es wird aufschlussreich sein, wie die Arbeitsergebnisse zum erwähnten ASMK-Beschluss ausfallen werden. Im Sozialgesetzbuch XI fehlt zudem bisher ein unmissverständlicher Auftrag zur Gewaltprävention in der Langzeitpflege. Darum bin ich der Meinung, das Thema Gewaltprävention im Gesundheitssystem – insbesondere auch in der Langzeitpflege – muss unbedingt in den Koalitionsvertrag einer neuen Bundesregierung aufgenommen werden.

„Denn Einrichtungen, in denen Gewaltprävention tatsächlich in der Organisationskultur verankert ist, sind nicht nur bessere Orte für pflegebedürftige Menschen, sie sind auch bessere Arbeitsorte.“

Wie kann man die Praxis konkret noch stärker unterstützen?

Aus unserem Arbeitsfeld heraus würde ich sagen, indem wir uns auf der Forschungs- und Praxistransferebene bemühen, wissenschaftsbasierte Unterstützungsangebote für die Langzeitpflege zu entwickeln, die noch niedrigschwelliger eingesetzt werden können. Das ist zwar keine triviale Aufgabe. Denn jeder, der das Umfeld kennt, weiß, die derzeitige Pflegekrise hat es noch schwieriger gemacht, in Pflege-Settings zu forschen, Maßnahmen gemeinsam mit und aus der Praxis heraus zu entwickeln und gut zu implementieren. Dennoch zeigen verschiedene Projekte auch, dass es immer wieder Organisationen – und vor allem auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – gibt, die sich Veränderungsanstrengungen zumuten. Weil sie die Versorgung der ihnen anvertrauten Menschen verbessern wollen und weil sie selbst unter besseren Bedingungen arbeiten wollen. Denn Einrichtungen, in denen Gewaltprävention tatsächlich in der Organisationskultur verankert ist, sind nicht nur bessere Orte für pflegebedürftige Menschen, sie sind auch bessere Arbeitsorte.

Welche Arbeiten rund um die Gewaltprävention stehen beim ZQP als Nächstes an?

Nachdem wir aktuell unseren neuen Report zum Thema Gewaltprävention in der stationären Langzeitpflege veröffentlicht haben, wird im weiteren Jahresverlauf das Musterrahmenkonzept zum Gewaltschutz in der stationären Langzeitpflege vorliegen, das wir gerade gemeinsam mit dem Institut für Pflegewissenschaft der Universität zu Köln erarbeiten. Etwas Ähnliches wollen wir anschließend auch für die ambulante Pflege anschieben. Außerdem geht 2025 das Pflege-CIRS des ZQP online, das auch genutzt werden kann, um in der Praxis aus tatsächlichen Gewaltvorfällen zu lernen. Nicht zuletzt prüfen wir intern gerade, ob und wie wir noch mehr Ressourcen einsetzen können, um dem Informations- und Schulungsbedarf zu dem Thema in den ZQP-Zielgruppen noch besser nachkommen zu können.

Titelseite der Broschüre „Gewaltprävention in der stationären Langzeitpflege“

Report

Gewaltprävention in der stationären Langzeitpflege

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Dieses Interview ist ein aktualisierter Auszug aus dem Fachmagazin ZQP diskurs 2025. Das Magazin kann kostenfrei heruntergeladen werden. Wenn Sie mehr zu unserer Arbeit und unserem Team erfahren möchten lesen Sie gerne im Über-Uns-Bereich weiter.